10.1. Fertigkeiten

In der Einstiegsaufgabe geht es offensichtlich um die Fertigkeit Leseverstehen. „Leseverstehen ist als Informationsverarbeitung ein Akt ständiger Bedeutungskonstruktion und als ein Prozess zu begreifen, der bewusst erworben wird" (Hermes 2010: 196). Die Fremdsprachenlerner haben sich in der Regel bereits in der Muttersprache eine Lesekompetenz entwickelt, die die Entwicklung der Lesefertigkeit in der Fremdsprache beeinflusst. Die Lesedidaktik geht nämlich von der sogenannten Interdependenzhypothese aus. Diese nimmt an, dass die Leseleistung in der L1 auch in der Fremdsprache abgebildet wird. Starke Leser in der L1 werden auch in der Fremdsprache nicht zu schwachen Lesern. In der Leseforschung wird noch eine weitere Hypothese berücksichtigt, die Schwellenhypothese. Die Schwellenhypothese besagt, „dass ein bestimmtes sprachliches Niveau in der Fremdsprache eine Eingangsvoraussetzung für fremdsprachliches Lesen ist" (Hermes 2010: 197). Wörter und Strukturen sollten also bekannt sein, um einen Text deuten zu können. Eine relevante Frage ist, in welchem Anteil die Wörter und Strukturen im Text bekannt sein sollten, damit ihn der Lerner verstehen kann.
Die Lesefertigkeit kann im Deutschunterricht nicht isoliert von anderen Fertigkeiten geschult werden. Welche Fertigkeiten gibt es im FU noch zu üben? Das Ziel des DaF-Unterrichts ist bekanntlich, die Fähigkeit der Lerner zur Kommunikation in deutscher Sprache zu entwickeln. Die Kommunikation ereignet sich im Medium der gesprochenen oder geschriebenen Sprache. Kommunikatives Handeln heißt, Informationen einer fremden Äußerung zu entnehmen oder Informationen zu übermitteln. So kommen wir auf die vier Grundfertigkeiten: Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechfertigkeit und Schreibfertigkeit, die sich, wie Tabelle 1 zeigt, in zwei Gruppen untergliedern lassen.Tabelle 1: Grundfertigkeiten

Tabelle 1: Grundfertigkeiten
  gesprochene Sprache geschriebene Sprache
Rezeptive Fertigkeiten Hörverstehen Leseverstehen
Produktive Fertigkeiten Sprechfertigkeit Schreibfertigkeit
Lernpsychologisch setzen die produktiven Fertigkeiten die rezeptiven voraus. In der Kommunikation, so auch im Unterricht, treten die Fertigkeiten nicht isoliert sondern im Wechselspiel auf. Typische Situationen im Unterricht sind die folgenden:
  • einen Text hören und eine Inhaltswiedergabe machen
  • einen Text lesen und eine Stellungnahme dazu schreiben
  • einen Text, dessen Ende fehlt lesen und ein Ende schreiben
  • einen Dialog hören und ihn anschließend im Lehrbuch lesen
Um die Schulung der Fertigkeiten vorzubereiten, werden die sprachlichen Mittel als Teilbereiche der Sprache gesondert geübt, in Aussprache-, Grammatik- und Wortschatzübungen. Da das Ziel die Entwicklung der Textkompetenz von Lernern ist, ist es wohl effektiv diese Übungen möglichst in die Textarbeit zu integrieren (siehe Kapitel 8 und 9 des Skriptums). Über die vier Grundfertigkeiten hinaus werden in „jüngerer Zeit auch das nonverbale Sehverstehen (visuelle Kompetenz), vor allem aber die Sprachmittlung als grundlegende Fertigkeit des Fremdsprachenunterrichts diskutiert“ (König 2010: 60). Vorliegendes Kapitel fokussiert exemplarisch für die rezeptiven Fertigkeiten auf die Lesefertigkeit.