10.3. Konsequenzen für den Deutschunterricht
In der Psycholinguistik wurden die Modelle, konzeptgeleitete und datengesteuerte Verstehensprozesse sowie deren Zusammenspiel durch die Beobachtung muttersprachlicher Sprecher entwickelt. Lassen sich die Modelle auch auf Fremdsprachensprecher übertragen? Da der Fremdsprachenlerner bereits mindestens eine Sprache, die Muttersprache, spricht, setzt er bereits Verstehensprozesse automatisiert und unbewusst ein. Auf diese Reserve greift er im Idealfall zurück und setzt die mentalen Handlungen (inferieren, Hypothesen bilden, antizipieren) auch beim Deuten fremdsprachlicher Texte ein. Die Praxis zeigt jedoch, dass der Transfer nicht automatisch bei jedem Lerner stattfindet. Eine Begründung liegt wohl darin, dass die mentalen Prozesse in L1 unbewusst laufen. Ein zweiter Grund könnte sein, dass der Lerner in einem deutschen Text meistens weniger Wörter und Strukturen versteht als in L1-Texten. So hat er vermutlich auch Schwierigkeiten mit dem Inferieren. Konzeptgeleitete Verstehensprozesse können jedoch das Verstehen der Wörter und Sätze im Text fördern, indem sie nicht gelungene datengesteuerte Verstehensprozesse kompensieren. In der einschlägigen Literatur wird kontrovers darüber diskutiert, in welchem Anteil dem Lerner Wörter und Strukturen im Text bekannt sein sollten, damit er den Text versteht. Uneinheitlich ist auch wie Deutschlehrer und Didaktiker das Wort „verstehen" interpretieren. Ich schließe mich der Meinung an, dass die Dichotomie - verstehen oder nichtverstehen - beim Textverstehen nicht existiert. Wir können auch nicht eindeutig sagen, ob wir das Rezept in der Aufgabe 1 verstanden haben. Aber wir können gewiss behaupten, dass wir etwas verstanden haben. Und im Fremdsprachenunterricht kommt es auf dieses Etwas an. Also die positive Frage lautet bei der Textarbeit: Was haben Sie verstanden? Diese Frage hat die Funktion, den Lerner zum Inferieren zu ermutigen. Gleichzeitig sollte die Frage ihn davon abbringen, jedes Wort und jede Struktur im Text verstehen zu wollen. Wichtig ist, dass die Lerner die zuversichtliche Einstellung haben, dass sie in der Lage sind, in jedem Text mindestens etwas zu verstehen. In einigen Texten verstehen sie mehr und es gibt Texte, in denen sie alle Aussagen verstehen. Wichtig ist, dass die Lerner angehalten werden, bei unbekannten Wörtern nicht aufzugeben, sondern die Texte weiter zu verfolgen.
Aufgabe 4
Die Fremdsprachendidaktik schlägt vor, Verstehensstrategien im Unterricht zu behandeln. Eine notwendige Strategie ist z. B. unbekannte Wörter aus dem Kontext zu erschließen. Probieren Sie diese Strategie aus. Kennen Sie das Wort „Schinken"? Was bedeutet „Schinken" auf dem Plakat (siehe Bild 2)?
Bild 2: Bücherbörse im Lenau-Haus
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