10.2. Psychologische Grundlagen des Textverstehens

Verstehensmodelle: konzeptgeleiteter Verstehensprozess und datengesteuerter Verstehensprozess
In diesem Abschnitt werden die psychologischen Grundlagen des Textverstehens angesprochen und drei Verstehensmodelle dargestellt: Der konzeptgeleitete Verstehensprozess (absteigender Verstehensprozess, top-down Verstehensprozess) und der datengeleitete Verstehensprozess (Wort-für-Wort-Verstehen, bottom-up-Verstehensprozess oder aufsteigender Verstehensprozess) sowie deren Zusammenspiel. Wir wollen folgenden Fragen nachgehen: Wie versteht man einen Text? Welche mentalen Prozesse spielen dabei eine wichtige Rolle?
iDevice ikon Aufgabe 2
Lesen und deuten Sie den folgenden kurzen Text (siehe Beispiel 1). Versuchen Sie sich selbst zu beobachten. Welche Prozesse laufen in Ihrem mentalen Lexikon ab?

Beispiel (1): „Kurz entschlossen betrat sie das Restaurant. Eine Stunde später fühlte sie sich schon wohler und verließ mit einem knappen Gruß zum Ober die gemütliche Gaststube" (Storch 1999: 198).


Wir erfahren beim Deuten des obigen kurzen Textes, dass wir wesentlich mehr verstehen, als die Worte ausdrücken. Vieles weiß der Leser, obwohl es in der Äußerung selbst nicht enthalten ist. Wir können im obigen Text nicht explizit lesen, was die Person im Restaurant gemacht hat. Trotzdem wissen wir, dass sie gegessen hat. Wir erfassen im Vorgang des Verstehens nicht nur Informationen, wir schaffen auch Informationen, wir inferieren. Wir steuern unser Weltwissen und Erfahrungen bei. Beim Lesen aktivieren wir unsere Kenntnisse über den gelesenen Sachverhalt. Im obigen Beispiel wird das Schema Restaurant - essen hervorgerufen. Beim Verstehen dieses Textes haben wir konzeptgeleitete Verstehensprozesse (absteigende Verstehensprozesse, top-down Verstehensprozesse) in Gang gesetzt. Verstehen ist nämlich ein hypothesengeleitetes Interpretieren. Jedes Zeichen, auch sprachliche Zeichen, wird nicht an sich verarbeitet, sondern interpretiert und in ein bestehendes mentales Netz eingepasst. Im Netz sind bereits verarbeitete und internalisierte Zeichen. Das Verstehen von Texten ist also ein aktiver Konstruktions- und Interpretationsprozess. Wir bemühen uns dem Text einen Sinn zuzuschreiben. Der Leser entnimmt einem Text nicht nur Informationen, sondern schreibt diesem Sinn zu.
Um Konzepte aktivieren zu können, müssen jedoch die Wörter, Sätze und Textstrukturen dekodiert werden. Lexikalische und grammatische Sprachkenntnisse sind zwar notwendige wenn auch nicht hinreichende Bedingungen für das Textverstehen. Beim datengesteuerten Verstehensprozess (Wort-für-Wort-Verstehen, bottom-up- oder aufsteigender Verstehensprozess) spielen die sprachlichen Einheiten Text, Sätze, Wörter und Buchstaben eine besondere Rolle. Das Verstehen ergibt sich nach dem datengeleiteten Verstehenskonzept dadurch, dass man als Leser synthetisiert. Man setzt aus den Buchstaben Wörter zusammen. Man ordnet den Wörtern Bedeutungen zu. In einem nächsten Schritt setzt man auf Grund grammatischer und syntaktischer Regeln die Wörter zu Sätzen zusammen. Der Text ist dann gewissermaßen eine verkettete Aneinanderreihung von Sätzen. Wenn der Leser lexikalische, grammatische, syntaktische und textliche Einzeldaten zusammengetragen und dekodiert hat, sowie sein Weltwissen eingebracht hat, hat er den Text verstanden.
Lehrer, die den datengeleiteten Verstehensprozess fördern möchten, stellen nach dem Lesen des Textes die folgende Frage: "Welche Wörter habt ihr nicht verstanden?" Diese negative Frage sollte man bei der Schulung des Textverstehens nicht stellen. Hinter dieser Frage verbirgt sich die Annahme, dass man einen Text erst dann verstanden hat, wenn man die Bedeutung jedes einzelnen Wortes abgeklärt und den Text vom ersten bis zum letzten Wort verstanden hat. Die Praxis zeigt jedoch, dass wir immer etwas verstehen. Wir haben einiges aus dem Rezept in der Aufgabe 1 verstanden, auch wenn wir nicht niederländisch sprechen. Beim Verstehen vollzieht sich nämlich ein Zusammenspiel datengesteuerter und konzeptgeleiteter Verstehensprozesse.
iDevice ikon Aufgabe 3

Überprüfen wir am folgenden Beispiel (siehe Beispiel 2), ob es für das Textverständnis ausreicht, wenn wir jedes Wort verstehen, also versuchen, uns nur auf einen Verstehensprozess, auf das datengeleitete Dekodieren zu verlassen.

Beispiel(2): Ich besuchte am Ostermontag meine Freundin. Sie freute sich sehr über mich. Als sie jedoch meine Freunde und den Eimer sah, lächelte sie nicht mehr. Trotzdem bekamen wir alle Eier.


Wir merken erneut, dass wir ohne das Wissen über die Osterbräuche diesen kurzen Text nicht interpretieren können. Beim Lesen inferieren wir, also wir lesen zwischen den Zeilen und schließen auf implizite Informationen. Unser Wissen über Osterbräuche zu aktivieren, ist bei der Textinterpretation unerlässlich. Die zwei Verstehensmodelle, datengeleiteter und konzeptgeleiteter Verstehensprozess, existieren also nicht unabhängig von einander (siehe Abbildung 1), sondern bedingen sich gegenseitig.

Abbildung 1
Modell: Wechselspiel datengesteuerter und konzeptgeleiteter Verstehensprozesse

Wie wichtig das Weltwissen beim Verstehen von Texten ist, zeigen besonders deutlich Witze. Um Witze, Pointen zu verstehen, reichen Sprachkenntnisse nicht aus, enzyklopädisches Wissen ist unentbehrlich. Das Wechselspiel datengesteuerter und konzeptgeleiteter Verstehensprozesse können wir auch am folgenden Beispiel deutlich erkennen.

„-Wie lange waren Adam und Eva im Paradies?
- Bis die Äpfel reiften“ (Gósy 2005: 145).