8.3 Die Rolle der Muttersprache
Die doppelte-Kodierung-Theorie ist empirisch hinreichend untermauert und auch für einen Sprecher gut nachvollziehbar. Das Modell beschreibt das einsprachige mentale Lexikon. Wir sind jedoch vorwiegend daran interessiert, wie das mentale Lexikon eines Deutschlerners aufgebaut ist. Wie lernt der Schüler neue, fremdsprachliche Vokabeln hinzu?
Bei der Speicherung
fremdsprachlicher Vokabeln ist die Tatsache auf
jeden Fall zu berücksichtigen, dass der Lerner Wortformen und
Begriffe in seiner Muttersprache bereits internalisiert hat. Beim
Erwerb der Erstsprache verlaufen die beiden Prozesse nämlich
parallel. Das Kind lernt den Begriff, z. B. ‚ein Tier mit vier
Beinen, der bellt’, etc. und gleichzeitig die Wortform [kutya] (=
Hund). Ein mentales Bild über einen prototypischen Vierbeiner hat
sich schon beim Erstspracherwerb im Gedächtnis gebildet. Beim Beginn
des Fremdsprachenerwerbs im schulischen Kontext sind also im mentalen
Lexikon des Lerners tief verankerte erstsprachige Wortformen und
Bilder, Konzepte vorhanden. Wie können zu vorhandenen mentalen
Repräsentationen von Wörtern neue fremdsprachliche Vokabeln
hinzukommen, die auch aus einer Wortform und einem Konzept bestehen?
Es gibt nach Weinreich (1953: 9-10) die folgenden drei Möglichkeiten
(siehe Abbildung 2): subordinierter, verbundener und koordinierter
Repräsentationstyp. Der subordinierte Repräsentationstyp geht davon
aus, dass der Weg zum Konzept über die erstsprachliche Wortform
führt. Die fremdsprachliche Wortform wird an die muttersprachliche
angedockt und so mit der mentalen Vorstellung über das Wort
verbunden. Der verbundene Repräsentationstyp nimmt an, dass sich die
fremdsprachliche Wortform direkt an den Begriff anschließt. Als
dritte Möglichkeit
ist der Repräsentationstyp koordiniert, wenn sich eine zusätzliche
von der muttersprachlichen Speicherung unabhängige Repräsentation
im mentalen Lexikon entwickelt. Die fremdsprachliche Wortform und
eine von der Erstsprache unabhängige mentale Vorstellung bilden
also eine neue Repräsentation.
Repräsentationstypen
Abbildung 2: Das Modell der Organisation des bilingualen mentalen Lexikons
(L1= Ungarisch, L2= Deutsch) (nach Weinreich 1953: 9-10)
Welcher Repräsentationstyp anzunehmen ist, hängt wohl zum einen vom Niveau des Lerners und zum anderen von der Beschaffenheit der jeweiligen Vokabel ab. Man geht davon aus, dass Anfänger eher dem subordinierten Typ folgen. Fortgeschrittene können schon vielmehr die L1-Wortformen umgehen, da in ihrem mentalen Lexikon L2-Wörter bereits gut vernetzt sind.
Modell 3 ist im Fremdsprachenerwerb bei jenen Begriffen höchstwahrscheinlich, die der Lerner in der Erstsprache nicht kennt. Wir kennen alle die Schwierigkeit, Vokabeln in der Fremdsprache richtig zu verstehen und verwenden, die in der L1 nicht konzeptualisiert sind (z. B. nachsitzen, blauer Brief).
Welcher
Repräsentationstyp erlaubt nun einen
schnellen Zugang zum Begriff? Wenn der Lerner keinen Umweg durch die
L1 zu machen hat, kommt er vermutlich prompt zur mentalen Vorstellung
über das Wort. Neue Begriffe zu bilden, wenn
passende schon vorhanden sind, ist wohl nicht ökonomisch. Die
Theorie scheint also einfach zu sein. In der Praxis ist es jedoch
recht mühsam, die muttersprachlichen Wortformen aus dem Spiel zu
lassen. Formen und Konzepte sind miteinander vernetzt.
Das Modell von Weinreich zeigt sehr plastisch die Repräsentationstypen und es wurde auch für die Didaktik fruchtbar gemacht. Das audiovisuelle Methodenkonzept greift auf das Modell von Weinreich zurück und nimmt an, dass sich verbundene Repräsentationstypen durch die Einsprachigkeit des Unterrichtes und durch viel Veranschaulichung im mentalen Lexikon bevorzugt herausbilden. Dieses Methodenkonzept schließt die Muttersprache des Lerners aus dem Unterrichtsgeschehen aus. Man hat aber beim Ausprobieren des audiovisuellen Methodenkonzeptes erkannt, dass die Muttersprache des Lerners in der Praxis aus seinem mentalen Lexikon nicht wegzudenken ist. Die Muttersprache ist also nicht nur als Hürde zu betrachten, sondern auch als eine Hilfe. All die Begriffe, die wir in der Erstsprache gelernt haben, sind als mentale Repräsentationen vorhanden. Man kann auf sie zurückgreifen, sie sind als Denkeinheiten präsent. Als Lerner erlebt man immer wieder, wie hilfreich z. B. beim Textverstehen das Weltwissen, das man in der Muttersprache erworben hat, fungieren kann.