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Als Frau Knödler den Verlust bemerkte, war es wenige Minuten vor Ladenschluss.
Überraschung und Verständnislosigkeit hielten sich zunächst die Waage.
Doch je länger sie über das Geschehnis nachdachte, umso mehr geriet sie in eine
Stimmung, die man allgemein als ‚gerechten’ Zorn bezeichnet.
Und Amanda Knödler, Inhaberin der Bücherei am Kaisereck, rief Herrn Schatz an.
Franz Schatz war nicht nur ihr Untermieter, sondern auch Detektiv in einer
Versicherung.
„Nur immer der Reihe nach, Frau Knödler!“ beschwichtigte Herr Schatz die aufgeregte
Frau, als er eine halbe Stunde später eintraf. „Also, wie war das?“
„Ich hatte den Bildband gerade ausgepackt und dort drüben ins Regal gestellt. Im
Laden waren nur zwei Kunden: Frau Stolze und Herr Langbein. Beide leihen seit
Jahren aus. Sie sind sozusagen Stammkunden meiner Leihbuchabteilung.“
Hier unterbrach Herr Schatz: „Haben die beiden auch heute ausgeliehen?“
Amanda Knödler nickte. „Ja. Herr Langbein zwei Kriminalromane und Frau Stolze ein
Buch über Astrologie. Ich musste es ihr heraussuchen, weil sie ihre Brille vergessen
hatte. Sie ist so kurzsichtig, dass sie nicht einmal ein Fünfmarkstück in ihrer Hand
erkennen kann. Gerade als ich ihr das Buch gab, klingelte das Telefon…“
Wieder unterbrach Herr Schatz: „Hatten die beiden Herrschaften denn die Möglichkeit,
den Bildband unterzubringen?“
„Ja. Frau Stolze trug eine größere Einkaufstasche, und Herr Langbein…“ Frau
Knödler überlegte einen Augenblick angestrengt… „ja, Herr Langbein hatte eine
Aktenmappe bei sich.“
„Und als die beiden gegangen waren, fehlte der Bildband?“ – „So war es!“ stimmte
Frau Knödler zu. „Und nach ihnen war auch kein Kunde mehr da. Es kann also nur
Frau Stolze oder Herr Langbein sein.“
„Wer verließ den Laden zuerst?“ Wieder musste Frau Knödler nachdenken. „Zuerst
ging Herr Langbein…“
„Na schön. Dann geben Sie mir mal jetzt die Adressen der beiden Stammkunden. Mal
sehen, was sie zu sagen haben.“
Herr Langbein blickte misstrauisch durch den Türschlitz. „Was wollen Sie?“ – „Ich
würde gern einmal eintreten, Herr Langbein. Frau Knödler von der Bücherei schickt
mich.“
Albert Langbein wies auf einen Stuhl. „Bitte, nehmen Sie Platz. Was hat Frau Knödler
denn auf dem Herzen?“
Schatz setzte sich und steuerte ohne Umschweife auf sein Ziel los: „Frau Knödler hat
heute Nachmittag einen kostbaren Bildband, Wert 120 Mark, ins Regal gestellt. Der ist
verschwunden, sagen Sie… doch nicht etwa der dicke Bildband, mit den antiken
Ausgrabungen…?“ „Genau der!“ stimmte Schatz zu. „Ist Ihnen etwas
aufgefallen?“ Sekundenlang starrte Albert Langbein seinen Besucher an. Dann
erwiderte er: „Verstehe. Sie wollen wissen, ob ich den Bildband gestohlen habe… Ich
war es selbstverständlich nicht. Aber vielleicht sehen Sie sich einmal die Frau an, die
mit mir im Laden war…und jetzt darf ich Sie bitten zu gehen!“ Resolut und bestimmt
zeigte Herr Langbein zur Tür.
Frau Stolze gab sich wesentlich freundlicher. Sie bot Schatz sogar ein Glas Bier an.
Als dieser dann zu der entscheidenden Frage kam, zwinkerte sie überrascht. „Ich soll den
Bildband mitgenommen haben? Nein, lieber Herr, da irren Sie sich.“ Dann flüsterte sie
aufgeregt: „Aber ich habe was beobachtet…Da war doch ein Mann im Laden…ich
stand einige Meter weg…Er wusste nicht, dass ich ihn sehe…und dieser Mann blätterte
in einem dicken Buch, wo drauf stand, ‚Antike Ausgrabungen’.“
„Hm…“ sagte Herr Schatz. „Haben Sie auch gesehen, dass er es eingesteckt
hat?“ Frau Stolze schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, das habe ich nicht gesehen.“
„Na, das macht nichts. Wir sind den Dingen ganz schön näher gekommen.“
Frau Stolze atmete auf. „Dann haben sie mich wohl jetzt nicht mehr im Verdacht?“
„Sicher werden Sie noch von der Sache hören, Frau Stolz. Meine Mission ist erfüllt. Ich
sollte mich ja nur erkundigen…“
Eine halbe Stunde später stand Herr Schatz wieder seiner Wirtin gegenüber. Und Frau
Knödler war ehrlich erfreut, dass der Ausflug ihres Untermieters von Erfolg gewesen
war. Und sie nahm sich vor, mit der diebischen Person ein ernstes Wörtchen zu reden.
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